Das Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) in Bamberg untersucht Bildungsprozesse von der Geburt bis ins hohe Erwachsenenalter. Um die bildungswissenschaftliche Längs­schnittforschung in Deutschland zu fördern, stellt das LIfBi eine grundlegende, überregional und international bedeutsame, forschungsbasierte Infrastruktur für die empirische Bildungsforschung zur Verfügung. Kern des Instituts ist das Nationale Bildungspanel (NEPS), das am LIfBi beheimatet ist und die Expertise eines deutschlandweiten, interdisziplinären Exzellenznetzwerks vereint. 

22.08.2022

Bildungsintegration geflüchteter Jugendlicher: Es kommt darauf an, wo man wohnt

Wie geflüchtete Jugendliche im deutschen Bildungssystem ankommen, hängt im föderalen Schulsystem stark davon ab, in welchem Bundesland sie leben. In einer neuen Studie zeigen Forschende des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe (LIfBi) und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) den Einfluss der Bildungspolitik von Bundesländern auf den Schuleintritt von geflüchteten Jugendlichen. Die untersuchten Geflüchteten warteten demnach oftmals lange auf den Schulstart, wurden zunächst häufig in Neuzugewandertenklassen eingeschult und besuchten vergleichsweise häufig niedrigere Schulformen. Aufgrund der oft geringen Durchlässigkeit des deutschen Schulsystems sind ihnen dadurch zum Teil schon früh im Integrationsprozess Grenzen für ihren weiteren Bildungsverlauf gesetzt.

Schnelle Einschulung oder eine längere Wartezeit, gemeinsamer Schulbesuch mit einheimischen Jugendlichen oder gesonderte Neuzugewandertenklassen – je nach Bundesland gibt es für Jugendliche, die nach ihrer Flucht in Deutschland ankommen, ganz unterschiedliche Varianten zur Integration ins Bildungssystem, jeweils mit spezifischen Vor-, aber auch Nachteilen. Wie sich die unterschiedlichen Bildungspolitiken in fünf Bundesländern auf den Schulstart von 2.415 geflüchteten 14- bis 16-jährigen Jugendlichen, die zwischen 2014 und 2018 in Deutschland angekommen sind, ausgewirkt haben, untersuchten Forschende des LIfBi und der MLU anhand von Daten der BMBF-geförderten Geflüchtetenstudie ReGES (Refugees in the German Educational System).

Lange Wartezeit

Die ReGES-Daten zeigen, dass die geflüchteten Jugendlichen nach ihrer Ankunft im Durchschnitt sieben Monate warten mussten, bis für sie die Schule begann. In der vorliegenden Studie wurden nun Faktoren untersucht, die mit der Wartedauer zusammenhängen: Kamen die Jugendlichen mit ihren Familien in Bundesländern an, die eine zeitliche Begrenzung bis zum Einsetzen der Schulpflicht vorschreiben, wurden sie bis zu zwei Monate schneller eingeschult als in Bundesländern, in denen Geflüchtete solange auf die Einschulung warten müssen, bis sie einer Kommune zugewiesen werden. „Die ReGES-Daten zeigen unter anderem, dass die Schullaufbahn der befragten Jugendlichen aufgrund der Flucht und im Zuge des Ankommens in Deutschland insgesamt durchschnittlich länger als ein Jahr unterbrochen war“, so Dr. Gisela Will, Projektkoordinatorin der Geflüchtetenstudie am LIfBi und Hauptautorin des Artikels. Sie betont, dass man mögliche Häufungen der Risiken in den Bildungswegen geflüchteter Jugendlicher im Blick behalten müsse.

Verbleib an der Hauptschule

Mit extra eingerichteten Willkommens- oder Neuzugewandertenklassen sollte den Jugendlichen der Einstieg in die Schule erleichtert werden. Allerdings wurden diese Klassen in einzelnen Bundesländern vornehmlich an Hauptschulen oder niedrigeren Schulformen eingerichtet. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie legen nahe, dass in diesen Bundesländern die geflüchteten Schülerinnen und Schüler beim Wechsel in eine Regelklasse ihre Schullaufbahn oftmals in der gleichen Schulform fortsetzen und seltener Regelklassen höherer Schulformen besuchen. „Geflüchteten Jugendlichen scheint der Wechsel in eine höhere Schulform in diesen Bundesländern nur schwer zu gelingen“, fasst Dr. Oliver Winkler von der MLU den Befund zusammen.

Unter Jüngeren

Aus der ReGES-Studie geht hervor, dass Geflüchtete häufig nicht altersgerecht eingeschult wurden. Oftmals lernten sie zusammen mit deutlich jüngeren Mitschülerinnen und -schülern. Die aktuelle Analyse zeigt, dass dies meist in jenen Bundesländern der Fall war, in denen die Geflüchteten nicht möglichst schnell in eine konkrete Klassenstufe eingeschult werden sollen, sondern dies zu einem späteren Zeitpunkt geschieht, wenn etwa detaillierte Messungen der Leistungsstände der Jugendlichen vorliegen. Neben den Auswirkungen auf das Klassengefüge, in dem durch diese Praxis Jugendliche verschiedener Altersgruppen aufeinandertreffen, hat dies auch für die Geflüchteten selbst Vor- und Nachteile, so die Forschenden. Auf der einen Seite haben ältere Geflüchtete mehr Zeit, um Deutsch zu lernen, bevor die Schulzeit für sie formal endet. Auf der anderen Seite fühlen sich ältere Geflüchtete vielleicht weniger verbunden mit der Schule, weil sie sich schon viel stärker in Richtung Beruf orientieren. Und das wiederum kann sich ungünstig auf das Lernen auswirken.

Die Bildungspolitik bestimmt den Weg

Insgesamt zeigen die ReGES-Daten deutlich, dass die Bildungsverläufe der geflüchteten Jugendlichen in Deutschland stark mit den politischen Vorgaben in den Ankunftsbundesländern zusammenhängen. Familiäre und individuelle Merkmale der Jugendlichen, wie zum Beispiel der Bildungsstatus ihrer Eltern, bilden hingegen kein echtes Gegengewicht zum Einfluss der gesetzlichen Vorgaben. Lediglich bei der besuchten Schulform spielen die Bildung der Eltern und die früheren Schulleistungen der Jugendlichen eine etwas bedeutsamere Rolle.

„Geflüchtete Schülerinnen und Schüler sowie ihre Eltern haben nur begrenzte Handlungsmöglichkeiten im Hinblick auf die Bildungsbeteiligung. Die Zuweisung zu einem Bundesland entscheidet maßgeblich über die Wartezeit bis zur Einschulung, ob man altersgerecht eingestuft wird und ob man eine Willkommensklasse besucht. Die zum Teil eingeschränkte Durchlässigkeit im deutschen Bildungssystem kann die Chancen von Geflüchteten weiter mindern, eine höhere Schulform zu besuchen, an der direkt Bildungsabschlüsse wie das Abitur oder die Mittlere Reife erlangt werden können“, zieht Dr. Regina Becker, Co-Autorin der Veröffentlichung, das Fazit der Auswertung.

Originalpublikation:

Will, G.; Becker, R.; & Winkler, O. (2022): Educational Policies Matter: How Schooling Strategies Influence Refugee Adolescents’ School Participation in Lower Secondary Education in Germany. Frontiers in Sociology 7:842543. https://doi.org/10.3389/fsoc.2022.842543

Weitere Neuigkeiten

NEPS | Nationales Bildungspanel

Das Nationale Bildungspanel ist die größte bildungswissenschaftliche Langzeitstudie in Deutschland. Durch die kontinuierliche Befragung und Testung von mehr als 70.000 Menschen entsteht und wächst ein international bedeutsamer Datenschatz, durch den Bildungsprozesse von der Geburt bis ins hohe Erwachsenenalter erforscht werden können.

Das NEPS vereint die Expertise von über 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an mehr als 13 Standorten deutschlandweit und ist am LIfBi in Bamberg beheimatet.

Großprojekte

 

Daten- und Serviceportal

Unser Daten- und Serviceportal beinhaltet das vollständige Angebot an Forschungsdaten des LIfBi und diesbezüglichen Dienstleistungen. Es informiert über die Voraussetzungen des Zugangs zu den Daten und unterstützt bei der Suche nach Variablen und Dokumentationsmaterialien. Das Portal verweist auf zahlreiche Hilfen für den Umgang mit den verfügbaren Scientific-Use-Files. 

Mehr anzeigen
unsplash/cytonn-photography
 

LIfBi Lectures

Die Vortragsreihe LIfBi Lectures bildet eine offene wissenschaftliche Dialogplattform über Fachgrenzen und Institutsbereiche hinweg. Gerade jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gibt die Vortragsreihe die Möglichkeit zur Vernetzung und zum interdisziplinären Dialog in unterschiedlichen Formaten rund um die Vorträge.

Zu den Veranstaltungen

Transfer

Zur Vermittlung unserer Forschungsergebnisse und dem Transfer unserer wissenschaftlichen Expertise werden am LIfBi die wichtigsten Themen und Aktivitäten des LIfBi aufbereitet, beispielsweise im Jahresbericht, in den LIfBi-News und im Newsletter LIfBi info. Unsere Transferberichte präsentieren Forschungsergebnisse allgemein verständlich.

Mehr erfahren

Publikationen

Die Forschenden am LIfBi publizieren zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten. Das Leibniz Institut gibt auch zwei eigene Publikationsreihen LIfBi Working Paper und NEPS Survey Paper sowie Transferberichte zu gesellschaftliche hochrelevanten Themen heraus.

Mehr erfahren

Karriere

Rund 250 Personen arbeiten derzeit am LIfBi in den Bereichen Forschung, Infrastruktur und Verwaltung. Unser wissenschaftliches Personal ist international und interdisziplinär aufgestellt – genau wie unsere Forschung. Diversität und Chancengleichheit gehören auf allen Ebenen zu unserem Selbstverständnis. Als familienfreundlicher Arbeitgeber unterstützt das LIfBi die Vereinbarkeit von Familienleben und Berufstätigkeit.

Mehr erfahren

Infrastruktur

Unsere Expertise als Infrastruktureinrichtung umfasst die Entwicklung von geeigneten Kompetenztests und Befragungsinstrumenten, über die Administration von großangelegten Bildungsstudien, bis hin zur Erforschung von wissenschaftlichen Methoden der Datenerhebung und -auswertung. Die gewonnen und aufbereiteten Daten stellen wir Forschenden weltweit kostenlos zur Verfügung. 

Mehr erfahren

Medien

Gerne vermitteln wir Ihnen Kontakte zu den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des LIfBi. Bei Medienanfragen bieten wir umfassende Unterstützung und organisieren Hintergrundgespräche für Politik, Redaktionen und Verbände. Unsere überregionalen Pressemitteilungen finden Sie im externen Presseportal. Auch in unseren Presseverteiler nehmen wir sie bei Interesse gerne auf.

Mehr erfahren