Das Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) in Bamberg untersucht Bildungsprozesse von der Geburt bis ins hohe Erwachsenenalter. Um die bildungswissenschaftliche Längs­schnittforschung in Deutschland zu fördern, stellt das LIfBi eine grundlegende, überregional und international bedeutsame, forschungsbasierte Infrastruktur für die empirische Bildungsforschung zur Verfügung. Kern des Instituts ist das Nationale Bildungspanel (NEPS), das am LIfBi beheimatet ist und die Expertise eines deutschlandweiten, interdisziplinären Exzellenznetzwerks vereint. 

15.03.2024

Stigma der Großwohnsiedlungen? Untersuchung der Wohnzufriedenheit in Plattenbausiedlungen in Mecklenburg-Vorpommern

Rostock, Schwerin und Greifswald gehören deutschlandweit zu den Städten, in denen Armut sich besonders ungleich verteilt. Besonders viele arme und sozial benachteiligte Menschen leben dort in Großwohnsiedlungen – landläufig Plattenbauten genannt. Diese in der DDR ehemals sozial durchmischten Wohnviertel haben sich zu Quartieren mit hohen Armutsquoten und einem hohen Anteil von Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund gewandelt. Eine aktuelle wissenschaftliche Untersuchung zeigt, dass die soziale Zusammensetzung dieser Gebiete auch mit einer etwas niedrigeren Wohnzufriedenheit in diesen Vierteln sowie einer Stigmatisierung durch die Bewohner:innen der anderen Stadtteile zusammenhängt. Kommunale Stadtumbauprogramme können den schlechten Ruf der „Platte“ und die gefühlte Wohnqualität aber verbessern.

Aktuelle Studien und die Auswertung amtlicher Daten zeigen, dass sich soziale Gruppen in den ostdeutschen Städten besonders ungleich über die einzelnen Stadtteile verteilen. Diese soziale Spaltung ist maßgeblich durch die Unterschiede zwischen den Großwohnsiedlungen und den restlichen Wohngebieten geprägt. In den Großwohnsiedlungen sind die Armutsquoten höher, der Anteil von Personen mit akademischem Abschluss oder von einkommenshohen Haushalten ist dagegen niedrig. Zudem kam es in den letzten Jahren zu einem vermehrten Zuzug von Neuzugewanderten. Die Auswertung amtlicher Daten zeigt das auch für Rostock, Schwerin und Greifswald: Armut ist in diesen Städten besonders ungleich verteilt und ballt sich in den Großwohnsiedlungen.

Ist Wohnen in der „Platte“ wirklich unbeliebt?
Ob die – den Daten nach – zum Teil prekäre soziale Lage in diesen Stadtteilen auch mit der Wohnzufriedenheit, der Wertschätzung für das eigene Viertel und dem nachbarschaftlichen Zusammenleben zusammenhängt, sollte eine Befragung der Einwohner:innen im Jahr 2022/23 zeigen. Die Befragung wurde von Professor Marcel Helbig und Sebastian Steinmetz im Rahmen des Projekts „Wissenschaftliche Begleitung der Wohnungsbaupolitik in Mecklenburg-Vorpommern“ in Kooperation mit den Stadtverwaltungen von Greifswald, Rostock und Schwerin durchgeführt. Insgesamt haben mehr als 8.200 Personen daran teilgenommen.

Überraschend ist, dass zwar die Zufriedenheit mit der eigenen Wohnqualität oft nur geringfügig von den gesamtstädtischen Zufriedenheitswerten abweicht, aber die Frage „Würden Sie einer befreundeten Person Ihr Viertel zum Wohnen empfehlen?“ überdurchschnittlich oft verneint wurde. Eigen- und Fremdwahrnehmung der Stadtteile sind also nicht deckungsgleich. In den Großwohnsiedlungen zeigt sich außerdem, dass Probleme wie Vandalismus, Verschmutzung, Kriminalität und Lärm stärker wahrgenommen werden als in anderen Stadtvierteln. Auch das nachbarschaftliche Zusammenleben wird in den meisten Großwohnsiedlungen schlechter bewertet als in anderen Quartieren, aber auch dort, wo viele jüngere Bewohner:innen leben. Insgesamt zeigt sich, dass die Großwohnsiedlungen in den verschiedenen Städten sehr unterschiedlich wahrgenommen werden.

Kommunen können Einfluss nehmen
Helbig und Steinmetz sind auch der Frage nachgegangen, ob es die bauliche Struktur der Plattenbauten ist, die zu einer größeren Unzufriedenheit mit der Wohnsituation führt oder ob andere Faktoren als Erklärung dienen können. Die Analysen zeigen, dass es tatsächlich die ungünstige soziale Zusammensetzung der Großwohnsiedlungen ist, die zu höherer Unzufriedenheit führt. Positive Entwicklungen und eine deutlich bessere Beurteilung des eigenen Viertels zeigen sich entsprechend dort, wo Kommunen aktiv städtebauliche Programme durchgeführt haben und infolgedessen die soziale Zusammensetzung der Siedlungen gemischter ist. Beispiele sind das Ostseeviertel in Greifswald, Lankow in Schwerin und Lichtenhagen in Rostock, wo neben den Plattenbauten neue Ein- und Zweifamilienhäuser entstanden und die Wohnungen weitgehend im kommunalen Bestand sind. In Vierteln, in denen Wohnungen privatwirtschaftlich vermarktet werden, haben die Kommunen dagegen nur sehr geringen Einfluss auf die städtebauliche Entwicklung.  

Insgesamt stehen die Kommunen vor einem großen Handlungsdruck. Die Forscher verweisen hier auf das Landesprogramm „Zukunft Wohnen“, das Startchancen-Programm der Bundesregierung und auf zivilgesellschaftliche Initiativen wie „Ein Quadratkilometer Bildung“, die diese Herausforderungen adressieren.

Hintergrund
Die Ergebnisse der Einwohnerbefragungen „Wohnen und Nachbarschaft“ und der Auswertungen von amtlichen Daten in den Städten Schwerin, Rostock und Greifswald wurden am 12. März 2024 der Öffentlichkeit vorgestellt. Zu der Online-Veranstaltung waren Repräsentant:innen und Einwohner:innen der drei Städte eingeladen. Die Befragung ist Teil des Projekts „Wissenschaftliche Begleitung der Wohnungsbaupolitik in Mecklenburg-Vorpommern“ am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi).

Präsentation der Ergebnisse (PDF)

Webseite des Projekts

Originalpublikation
Die Studie mit den Auswertungen amtlicher Daten und der Befragung ist als LIfBi Working Paper erschienen und frei verfügbar:

Helbig, M., & Steinmetz, S. (2024). Ist die Wohnbevölkerung in sozial benachteiligten Quartieren mit ihrem Wohnumfeld (un)zufrieden? Sozialstruktur und Wohnzufriedenheit in den Stadtteilen von Greifswald, Rostock und Schwerin. LIfBi Working Paper 112. Leibniz Institut für Bildungsverläufe. https://doi.org/10.5157/LIfBi:WP112:1.0

Stigma der Großwohnsiedlungen? Untersuchung der Wohnzufriedenheit in Plattenbausiedlungen in Mecklenburg-Vorpommern
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Weitere Neuigkeiten

NEPS | Nationales Bildungspanel

Das Nationale Bildungspanel ist die größte bildungswissenschaftliche Langzeitstudie in Deutschland. Durch die kontinuierliche Befragung und Testung von mehr als 70.000 Menschen entsteht und wächst ein international bedeutsamer Datenschatz, durch den Bildungsprozesse von der Geburt bis ins hohe Erwachsenenalter erforscht werden können.

Das NEPS vereint die Expertise von über 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an mehr als 13 Standorten deutschlandweit und ist am LIfBi in Bamberg beheimatet.

Großprojekte

 

Daten- und Serviceportal

Unser Daten- und Serviceportal beinhaltet das vollständige Angebot an Forschungsdaten des LIfBi und diesbezüglichen Dienstleistungen. Es informiert über die Voraussetzungen des Zugangs zu den Daten und unterstützt bei der Suche nach Variablen und Dokumentationsmaterialien. Das Portal verweist auf zahlreiche Hilfen für den Umgang mit den verfügbaren Scientific-Use-Files. 

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LIfBi Lectures

Die Vortragsreihe LIfBi Lectures bildet eine offene wissenschaftliche Dialogplattform über Fachgrenzen und Institutsbereiche hinweg. Gerade jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gibt die Vortragsreihe die Möglichkeit zur Vernetzung und zum interdisziplinären Dialog in unterschiedlichen Formaten rund um die Vorträge.

Zu den Veranstaltungen

Transfer

Zur Vermittlung unserer Forschungsergebnisse und dem Transfer unserer wissenschaftlichen Expertise werden am LIfBi die wichtigsten Themen und Aktivitäten des LIfBi aufbereitet, beispielsweise im Jahresbericht, in den LIfBi-News und im Newsletter LIfBi info. Unsere Transferberichte präsentieren Forschungsergebnisse allgemein verständlich.

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Publikationen

Die Forschenden am LIfBi publizieren zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten. Das Leibniz Institut gibt auch zwei eigene Publikationsreihen LIfBi Working Paper und NEPS Survey Paper sowie Transferberichte zu gesellschaftliche hochrelevanten Themen heraus.

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Karriere

Rund 250 Personen arbeiten derzeit am LIfBi in den Bereichen Forschung, Infrastruktur und Verwaltung. Unser wissenschaftliches Personal ist international und interdisziplinär aufgestellt – genau wie unsere Forschung. Diversität und Chancengleichheit gehören auf allen Ebenen zu unserem Selbstverständnis. Als familienfreundlicher Arbeitgeber unterstützt das LIfBi die Vereinbarkeit von Familienleben und Berufstätigkeit.

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Infrastruktur

Unsere Expertise als Infrastruktureinrichtung umfasst die Entwicklung von geeigneten Kompetenztests und Befragungsinstrumenten, über die Administration von großangelegten Bildungsstudien, bis hin zur Erforschung von wissenschaftlichen Methoden der Datenerhebung und -auswertung. Die gewonnen und aufbereiteten Daten stellen wir Forschenden weltweit kostenlos zur Verfügung. 

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Medien

Gerne vermitteln wir Ihnen Kontakte zu den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des LIfBi. Bei Medienanfragen bieten wir umfassende Unterstützung und organisieren Hintergrundgespräche für Politik, Redaktionen und Verbände. Unsere überregionalen Pressemitteilungen finden Sie im externen Presseportal. Auch in unseren Presseverteiler nehmen wir sie bei Interesse gerne auf.

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